Vortrag von Dr. Karl-Peter Krauss am 11. Februar 2016 im Forum Fasanenhof

In einer regionalen Studie - Württemberg - wurde die Situation der Neuapostolischen Kirche (NAK) untersucht, die im vom Pietismus geprägten altwürttembergischen und evangelischen Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg extreme Zuwachsraten zu verzeichnen hatte.
Bisherige Arbeiten über die Neuapostolische Kirche beschränkten sich fast durchweg auf Archivmaterial der Oberbehörden und der Partei des NS-Staates in staatlichen Archiven. Doch es gibt Akten der unteren Verwaltungsbehörden, die eine breitere Rekonstruktion etwa der Überwachung zulassen. Grundprinzip bei der Quellenrecherche muss das Ziel eines breiten, multiperspektivischen Zugangs sein. Leider gibt es zu dieser Thematik nur wenig internes Archivmaterial der NAK.

In Württemberg selbst erfolgte durch das Innenministerium am 14. Juni 1933 ein Verbot der Werbung für die Ernsten Bibelforscher (Zeugen Jehovas) und der NAK. Dies hatte in Bezug auf das Wachstum sofort unmittelbare Auswirkungen bis auf die Ebene der einzelnen Gemeinden.

Im Vortrag wurden u. a. drei wesentliche Aspekte thematisiert: Die Mitgliederentwicklung der NAK in der Zeit des Nationalsozialismus, die Frage der Überwachung durch den NS-Staat sowie die formale Belastung leitender Funktionsträger der NAK. Als Analysekategorien bieten sich diese Punkte deshalb an, weil diese Fragen insbesondere in der (kritischen) Literatur über die NAK eine wesentliche Rolle spielen. Dort galt eine dynamische Mitgliederentwicklung als Ausdruck für ein weitgehendes Maß an Staatskonformität und Staatsbejahung; die in den staatlichen Akten enthaltenen Äußerungen der Kirchenleitung scheinen dies noch zu untermauern.

 

Fast durchweg wird in der einschlägigen Literatur über die Kirche eine positive Mitgliederentwicklung zwischen 1933 und 1945 konstatiert, die sich aber insbesondere auf das „Leitheft über die Neuapostolische Gemeinde e. V.“ beruft, das im Mai 1937 vom „Reichsführer-SS“ und Chef des Sicherheitshauptamtes Heinrich Himmler (1900-1945) herausgegeben worden war. So sei die Mitgliederzahl der NAK von 1933 bis 1936 von rund 240.000 auf knapp 290.000 Personen gestiegen - also um 50.000.

Tatsächlich waren es Ende 1937 weniger, nämlich 257.561 Mitglieder. Der angebliche Zuwachs um 50.000 Mitglieder wird somit als bewusste Manipulation demaskiert. Die von der „Sekte“ angeblich ausgehende „Gefahr“ sollte Gegenmaßnahmen rechtfertigen. Eine durchaus übliche Maßnahme bei „Sekten“ und „Staatsfeinden“. Der Sachbearbeiter im SDHA (Sicherheitsdienst der SS, Hauptamt) Kolrep behauptete auf einer Tagung am 18. Juni 1937 sogar, dass die NAK „in den letzten drei Jahren einen Mitgliederzuwachs von 100.000 zu verzeichnen gehabt“ habe. Die tatsächliche Zunahme in diesen drei Jahren lag bei 13.490 Personen und ist teilweise durch einen Geburtenüberschuss erklärbar.. Immerhin kommt der NS-Propaganda bis heute eine gewisse Deutungshoheit für das Geschichtsbild über die NAK zu.

Selbst in der offiziösen kirchlichen Literatur wurde der Wachstumsmythos befördert. 1985 gab der Verlag Friedrich Bischoff ein Buch über „J. G. Bischoff“ (1871-1960)“ heraus. Dort heißt es: „Unter der umsichtigen Leitung des Stammapostels Bischoff nahmen die Apostelbezirke zu Beginn der dreißiger Jahre einen ungeahnten Aufschwung…“
Zwar gab es beispielsweise im Apostelbezirk Heilbronn 1926 noch 18.517 Mitglieder, Ende 1933 schon 35.375 - eine Verdopplung innerhalb von sieben Jahren. Nach der Machtergreifung änderte sich diese Entwicklung abrupt, 1938 kam es sogar zu einem Rückgang der Mitglieder, sodass es Ende 1938 37.182 waren. Erst 1947 stiegen die Mitgliederzahlen 1947 wieder deutlich an.

Ein Vergleich zwischen der Entwicklung der Versiegelungen von Erwachsenen in Deutschland und der Schweiz zeigt den Einbruch des Wachstums in Deutschland nach 1933 noch deutlicher. Die Zahlen widerlegen, dass die NAK unter dem NS-Regime eine Blüte erlebte.

Da die Akten der Gestapozentrale am Kriegsende vernichtet wurden, ist man hinsichtlich der Überwachung der Kirche auf Akten der unteren Verwaltungsbehörden angewiesen. Nach dem Werbeverbot 1933 wurden zunächst die Vorsteher der Gemeinden erfasst. Sie mussten per Unterschrift bestätigen, dass ihnen das Werbeverbot eröffnet wurde. Bei Nichtbeachtung drohte ein Verbot der Gemeinde. Ein weiterer Überwachungszyklus aller „Sekten“ erfolgte 1935. Diese wurden mit der Anzahl der Mitglieder in Listen erfasst, ebenso ihre Ziele und ihre politische Einstellung. Vergleiche mit anderen gleichgeschalteten Ländern im NS-Staat zeigen das koordinierte reichsweite Vorgehen. Im April 1938 ordnete die Gestapo Stuttgart an, „vertrauliche Erhebungen über die „Neu-Apostolische Gemeinde […] anzustellen.“ Alle leitenden Persönlichkeiten wurden mit Personalien erfasst, ebenso ihre Einstellung zum NS-Staat, die Vermögensverhältnisse der Gemeinden, die Haltung der örtlichen Gemeinde zum NS-Staat. Ende 1938 wurden die Gemeindevorsteher gezwungen, Abschriften der Mitgliederlisten herauszugeben.

Im Krieg scheint die Überwachung der Kirchen zu einem Nebenkriegsschauplatz geworden zu sein. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich (1904-1942) schrieb am 03. September 1941, „dass alle Maßnahmen unterbleiben, welche die einheitliche Stimmung des deutschen Volkes beeinträchtigen könnten.“ Dies hielt jedoch einzelne Vertreter des NS-Regimes nicht davon ab, weiterhin massiv gegen Kirchen und ihre Vertreter vorzugehen.

Wie groß war die formale Belastung leitender Funktionsträger der NAK? Nach dem letzten Adressbuch vor Kriegsende von 1940 gab es 197 Amtsträger mit Führungsfunktion (Bezirksapostel, Apostel, Bezirksälteste, Vorsteher) in der späteren Amerikanischen Zone. Werden diese mit den Spruchkammerakten verglichen, zeigt sich, dass davon 29 Personen vom Befreiungsgesetz betroffen waren. Weder Bezirksapostel Schall noch Apostel Ludwig oder einer der Bezirksvorsteher waren in einer Parteiorganisation. Vor 1933 war kein Funktionsträger in der Partei. Von den 18 Parteimitgliedern der 29 formal belasteten Personen waren zwei sog. „Märzgefallene“.

Dadurch ergeben sich diese Schlussfolgerungen: Eine monokausale Beurteilung der NAK durch die Brille der Dokumente des NS-Staates führt zu keiner angemessenen Beurteilung. Nur eine multiperspektivische Sicht vermag alle Grautöne zu erfassen. Die NAK hat sich nach außen gegenüber dem Regime loyal verhalten und ein hohes Maß an Konformität und Opportunismus suggeriert, das bis zur Anbiederung ging. Das zeigen offizielle Rundschreiben und etwa das von Bezirksapostel Landgraf verfasste Dokument „Die Neuapostolische Gemeinde im Dritten Reich“. Doch im Wissen um die Überwachung verfasste Dokumente sind kein Beweis tatsächlicher Loyalität. Denn die inoffizielle Korrespondenz sowie Spruchkammerakten deuten darauf hin, dass Handlungsspielräume bis zum passiven Widerstand wahrgenommen wurden. Korrespondenz, die aus der neutralen Schweiz verschickt wurde, enthält andere Aussagen und politische Bewertungen als die Schreiben aus und nach Deutschland. So kann die Strategie der Kirche wohl am ehesten als inszenierte Anpassung charakterisiert werden.
Einen etwas ausführlicheren Bericht über diesen Vortrag findet man auf www.glaubenskultur.de:
1993-Historiker Dr. Karl-Peter Krauss referiert über die württembergische NAK in der NS-Zeit